Phonophobie: Die Angst vor Lärm aus der Nachbarschaft

Streetart Bild von einer Person, von der man nur den schreienden Mund sehen kann

 Thiebaud Faix I Unsplash

Ich habe da ein Problem. Ein sehr diffuses, irrationales, das Leben stark einschränkendes Problem. Ich leide unter Phonophobie – der Angst vor bestimmten Geräuschen. Und zwar in meinem Fall: Angst vor Lärm aus der Nachbarschaft. Vor lauten Nachbar*innen, vor lauter Musik, vor ungewöhnlich lauten Gesprächen und lautem TV. Diese Störung hat sich entwickelt, als ich wie noch nie zu vor in meinem Leben Ruhe brauchte und leider in einer unglaublich hellhörigen Wohnung gefangen war. Und somit allen Geräuschen ausgeliefert.

Wenn (Nachbars-)lärm krank macht

Die Geräusche kamen aus vier Wohnungen gleichzeitig – und noch den Wohnungen über den Wohnungen. Es war wirklich unfassbar hellhörig. Eine durchgeknallte Nachbarin über mir, die hauptberuflich Yoga lehrte und Chakren-Workshops gab, ließ sich vom cholerischen, gewalttätigen Ehemann täglich niederbrüllen, der oft laute Musik hörte und der mir und ihr gegenüber mehrfach Gewalt androhte. Meiner Nachbarin unter mir, sicherlich mit einem Herz aus Gold gesegnet, bot auf ihren 49qm immer wieder jungen Familien eine Unterkunft. Also zu sechst mit Baby in dieser Wohnung, einer Wohnung, in der man jedes Telefonat mitbekam, jede TV-Serie mitsprechen und jeden Weinkorken knallen hören konnte. Dusche? Habe ich gehört. Klodeckel? Habe ich gehört. Baby? Nachts um zwei, um vier und um sechs? Habe ich natürlich gehört. Ich lebte gezwungen in einer großen WG, ohne dass ich mir meine Mitbewohner*innen aussuchen konnte, ich musste Musik, musste Gespräche ertragen und konnte nicht schlafen, wann ich wollte, sondern immer nur dann, wenn das Umfeld es endlich zuließ.

Diese Kulisse habe ich über Jahre mitangehört. Zuerst hat mich das nur genervt. Eine normale Reaktion. Irgendwann schlug das in Stress um. Und als mein Burnout kam, und alles zusammenbrach – da wurde eine Re-Traumatisierung daraus und ich entwickelte als Traumafolgestörung meine Phonophobie.

Wie meine Phonophobie meinem Burnout entsprang

Ich hatte Panik, jeden einzelnen Tag Panik. Ein kleines Geräusch und die Panik schoss nur so in mir hoch. Wenn ich schon die Schritte auf der Treppe hörte, wummerte das Herz. Wenn oben die Bachata-Musik begann (geh mir weg mit diesem Musikstil!), überrollte mich die große Adrenalin-Welle, mein Impuls war FLIGHT! Im Grunde hatte ich eine einzige Panikattacke, die aber von Februar an bis in den Dezember hinein. Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht entspannen, ich habe keinen IST-Zustand mehr erlebt, es war ein Wanngehtdaswiederloswannschreitdas-babyodertelefoniertdienachbarinnebenmiroderwannknallteinetüroderwannsingtderübermir. Per-ma-nent.

Nein, das ist kein Normalzustand aber es gibt eben die Fälle, in denen Lärm der Nachbarn schlicht krank machen kann. Das geht bei Menschen in hellhörigen Wohnungen aber auch, wer laute Nachbarn über den Gartenzaun hört. Das kann ad hoc auftreten oder sich langsam entwickeln. Das kann vorherige psychische Erkrankungen haben, das kann aber auch gesunde Menschen betreffen.

Die Wohnung konnte ich wechseln. Die Angststörung blieb. Ich habe so eine hartnäckige Störung davongetragen, dass ich heute riesige Einschränkungen in meinem Alltag erlebe. Ich kann auf keinem Campingplatz stehen – Musik ist mein Trigger. In Hotels kann ich nur gut schlafen, wenn über mir oder im Flur keine lauten Geräusche zu vernehmen sind. Ferienhäuser oder Wohnungen werden von mir sorgfältig auf Hellhörigkeit geprüft.

Lärm beeinträchtigt auch die Gesundheit im engeren Sinn. Er aktiviert das autonome Nervensystem und das hormonelle System. Die Folge: Veränderungen bei Blutdruck, Herzfrequenz und anderen Kreislauffaktoren. Der Körper schüttet vermehrt Stresshormone aus, die ihrerseits in Stoffwechselvorgänge des Körpers eingreifen. Quelle: Umweltbundesamt

Ein verwackeltes Bild einer Person, die sich die Ohren zu hält

Aliaksei Lepik I Unsplash

Phonophobie oder Hyperakusis – Was ist Was

Bei der Phonophobie handelt es sich um Angst vor bestimmten Geräuschen. Menschen, die an Phonophobie leiden, haben oft ein traumatisches Erlebnis erlebt, dass mit großem Lärm zusammenhing, wie bei einem Autounfall oder einer Explosion. Oder eben traumatische Erlebnisse, in denen es auch laute Geräusche wie Musik gab. Das verknüpft sich dann im Gehirn. So wie bei mir. Menschen reagieren – wie ich auch – mit körperlichen Symptomen wie Herzrasen, vermehrtes Schwitzen, bis hin zu Muskelzucken, Ohnmachtsanfälle usw.

Die Hyperakusis wiederum ist eine gesteigerte Geräuscheempfindlichkeit gegenüber Umweltgeräuschen. Lautes Atmen, Uhrenticken, Tastaturgeräusche. Die werden dann als extrem unangenehm wahrgenommen – Tendenz steigern. Unsere Ohren sind permanent unter Dauerschall – oft wird diese Belastung gar nicht wahrgenommen. Verkehrslärm, Dudelei aus Radio oder im Supermarkt, Gespräche, Telefonate, Serien im Hintergrund. Der Gehörkanal ist immer on. Und wir sind gestresst vom vielen hinhören und so können schon Uhren ticken oder leichtes Kühlschrank brummen zu Stressreaktionen führen.

Klassiker: Viel Unverständnis im persönlichen Umfeld

Wie so oft stieß ich mit meiner Problematik vor allem auf geschlossene Ohren. Psychisch gesunde Menschen sind leider sehr oft sehr intolerant. Das ist Ableismus in Reinform und wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns, Menschen zu erklären, dass nicht nur bspw. Rassismus diskriminierend ist, sondern es ebenso diskriminierend ist, psychisch erkrankten Menschen ihre Erkrankung nicht zu glauben oder sie deshalb zu stigmatisieren.

Ich verstehe, dass man das vorliegende Problem nicht in Gänze nachfühlen kann aber eine gewisse Geräuscheempfindlichkeit betrifft viele Menschen. Nur geht es bei der Phonophobie leider viel weiter. Tatsächlich fand ich in all den Altbauten, in denen ich wohnte, Geräusche aus der Nachbarschaft schon immer sehr störend, manchmal hat es mich auch gestresst, aber Angst hatte ich nicht. Erst, als mein gesamtes System zusammenbrach und ich einfach nur Ruhe brauchte, entwickelte sie sich. Und zwar mächtig. Oft tritt so eine Überempfindlichkeit in genau solchen, einschneidenden Lebenssituationen auf. Trennungen, der Verlust eines Arbeitsplatzes oder eine schwere Krankheit – puff – da kann sich so eine Angststörung entwickeln. Irrational, unpassend und unglaublich hartnäckig.

Das Ausgeliefertsein ist das Problem

Wer nicht das große Glück hat, am Dorfrand oder im Wald zu wohnen, ist von Nachbar*innen umgeben. In meinem Fall lebe ich mitten in Hamburg und unser belebter Innenhof ist massiv laut. Wenn alle auf ihren Balkonen sitzen, sich unterhalten, telefonieren und Musik hören, ist das einfach ein Gewirr und ich bin dem ausgeliefert. Glücklicherweise wohnen wir in einem Bunker. Das war Bedingung des Umzugs, ich musste dicke Wände um mich haben und dreifach-verglaste Fenster. Nur so kann ich den Lärm da draußen ausschalten. Nur so kann ich in die Stille gehen. Ich schließe die Tür zum Innenhof und trete in die Stille. Bliss! Wer das nicht kann – der ist ausgeliefert.

Interessanterweise gibt es eben viele Menschen, denen es total egal ist, dass man ihre Gespräche weithin hören kann, ja sie genießen den ganz großen Auftritt auf dem Balkon vielleicht sogar. Auch der eigene Musikgeschmack wird gerne nach außen getragen, meist herrscht Konsens und die Menschen hören Spotify Playlisten mit The Weeknd. Selten bricht mal jemand da aus. Ich bin wirklich versucht, und ich werde es noch tun, mich auch mal sonntags entspannt auf die Terrasse zu setzen und Slipknot, Cradle of Filth oder Death Metal laufen zu lassen. Ich freue mich auf die Gesichter!

Klar, man erahnt es, ich bin genervt von der fehlenden Rücksichtnahme und der Gedankenlosigkeit. Dabei weiß ich nur allzu gut, dass es vielen Menschen gar nicht bewusst ist, wie störend sie sein können. Es ist ja auch ein himmelweiter Unterschied, ob es den Leuten egal ist, dass sie Leute stören oder ob es ihnen egal sei, Menschen in Panik zu versetzen, das würden sicherlich die wenigsten wollen, das ist ein eklatanter Unterschied. Sie wissen es oft schlicht nicht. Was hilft hier also? Genau, in den Dialog treten. Es ist wichtig, zu sprechen. Wichtig, seine Bedürfnisse und vielleicht auch Ängste mitzuteilen.

Aber was, wenn die Nachbarschaft darauf scheißt und erst recht laut wird? Dann wird es leider zum Psycho-Terror. Das hatte ich selber, das weiß ich aus dem Austausch mit anderen Betroffenen. Das kann bis zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Da kann ich nur sagen: wegziehen.

Medical Gaslighting – Wenn Expert*innen dir nicht Glauben

Ich habe versucht, mit Mediziner*innen über die Problematik zu sprechen. Ein Angstforscher in der Rehaklinik hat mich nur lächelnd angesehen und gesagt, das gibt es so nicht, das habe er ja noch nie gehört. Auch andere Ärzt*innen zucken nur mit den Schultern. Oder zücken den Rezeptblock.

Therapeut*innen sagen, das kann man anhand von Skills oder Konfrontation lösen. Skills sollen in bestimmten Angstsituationen helfen, sich auf sich selbst zu konzentrieren und den Fokus auf etwas anderes als die Angst zu lenken. Oder in die Hypnose gehen.

Skills, die hier infrage kommen können:

  • Um aus der Situation zu gehen, beiße in eine scharfe Chili

  • Geh kalt duschen

  • Zieh an einem Gummi, dass du am Handgelenk befestigst

  • Benenne fünf Gegenstände, die du siehst

Hat das geholfen? Äh. Nein.

Therapien, die hier infrage kommen:

  • Konfrontationstherapie

  • Verhaltenstherapie

  • Hypnose

Die Konfrontation ist klar. Setz dich inmitten des Lärms und versuche in a) zu akzeptieren und b) ihn auszuhalten. Hat das geholfen? Nein! Ich akzeptiere den Lärm, denn ich weiß, als rationaler Mensch, dass Geräusche keine Lebensgefahr darstellen. Sie sind Schall und Wellen, Sie kommen und sie gehen. Ich bin umgeben von Menschen. ICH WEISS DAS.

Macht es das besser? Nein. Auch die Hypnose hat nicht geholfen

Ein kleines Haus steht einsam in einer Landschaft

Stille suchen Luke Stackpoole I Unsplash

Was also hilft (mir)bei Phonophobie?

Ich wünschte, ich hätte hier das Patentrezept. Ich habe es nicht. Ich kann nur sagen, versuchen, in die Stille zu gehen. Ein heillos überreiztes Nervensystem benötigt viel Ruhe. Die muss vielleicht außerhalb der Wohnung gesucht werden, in der Natur.

Ich kann überdies nur nochmal zusammenfassend sagen: in den Dialog mit den Nachbar*innen treten und seine Situation erklären. Wenn das nicht geht, so wie früher bei mir auch, dann haben mir meine Sony Noise Canceller-Kopfhörer hunderte Male den Arsch gerettet. Ohne diese Entdeckung wäre mir sonst der Schädel geplatzt.

Definitiv muss eine Phonophobie auch behandelt werden, eine Therapie ist hier das A und O. Zudem gibt es unzählige Psychologische-Selbsthilfe-Foren, wo die Thematik (die weiterverbreiteter ist, als man annehmen möchte) besprochen wird.

Zu guter Letzt hilft oft nur, wegziehen. Ich wünsche allen Betroffenen aus tiefstem Herzen, dass sie Heilung finden. Und dem ein oder anderen Menschen, dass er sein Verhalten vielleicht noch mal durchdenkt. Muss wirklich jede/r im Innenhof Teil deiner Balkon-Party sein? Ich glaube nicht. Gemeinsam aufeinander achtgeben täte uns sicher allen ganz gut. Gilt auch für mich.

P.S.: Phonophobie kann auch Kinder betreffen. Wertvolle Hilfe und Aufklärung findet ihr auf der Plattform “Starke Kids”, auf der es sich um das Stärken von Selbstwert bei Kindern geht. Hier gibt es ebenfalls einen Blogpost zum Thema Angst vor Geräuschen – halt bei Kids.

Edit: Ich habe eine Rezension zum Buch „Geräuschempfindlichkeit“ von Andreas Schapowal verfasst. Hier geht es zum Post. Darin werden etliche Überempfindlichkeiten wie Phonophobie oder Misophobie, aber auch Tinnitus erklärt, klassische medizinische Therapien, aber auch natürliche Heilverfahren und vor allem Therapiemöglichkeiten aufgezeigt.


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