Wake up, Stand up! Politische Lieblings-Songs von Politiker*innen, Kulturschaffenden, Freunden und Familie

Eine Person hält in einem Plattenladen eine Vinyl hoch, auf dem Cover sieht man das Woodstock Festival

Woodstock – Synonym für das politische Musikfestival I Credit: Haley Lawrence - Unsplash

You can't change the world
But you can change the facts
And when you change the facts
You change points of view
If you change points of view
You may change a vote
And when you change a vote
You may change the world
Depeche Mode, New Dress

Endspurt – am 26. September ist die mittlerweile nervenzerfetzende Bundestagswahl. Aber schlappmachen ist nicht – im Gegenteil: Jetzt beginnt die heiße Phase in der es gilt, nochmal so richtig aufzudrehen! Die letzte Gelegenheit, Deine Mitmenschen zu motivieren, dass sie bitte zur Wahl gehen und sich im Idealfall vorher mit den diversen Parteiprogrammen und wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Herausforderungen unserer Zeit auseinandersetzen!

Wake up, Stand up!

Die nötige Motivation dafür lässt sich am besten aus der richtigen Musik ziehen. Denn Politik und Musik sind seit jeher eine gute Kombi, wenn es darum geht, sich oder andere zu motivieren oder zum Nachdenken anzuregen. Deshalb habe ich einfach mal ein paar Kulturschaffende, Politiker*innen, Freunde und Familienmitglieder nach ihren Lieblings-Polit-Songs gefragt. Mit dabei unter anderem die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Claudia Roth, der Clubkinder e.V. Mitgründer Jannes Vahl, der Musiker Jan Plewka, die Schauspielerin Andrea Gerhard und die Journalistin Verena Reygers.

Politische Musik – ein Schnelldurchlauf

Ich kenne wirklich niemanden, für den Musik keine tragende Rolle im Leben oder zumindest in einzelnen Lebensphasen spielt oder gespielt hat. Jede/r hat irgendwie einen oder mehrere Songs oder Musikstile, die sie oder ihn durchs Leben begleiten und für nicht wenige Menschen ist Musik essenziell. Für mich zum Beispiel. Auch oder gerade, weil Musik auch politisch kann.

Historisch betrachtet wurde Musik immer schon sowohl zu kriegerischen als auch zu friedlichen Zwecken eingesetzt. Klassische Komponisten haben in lauten oder eher leisen Tönen ihrer Meinung Ausdruck verliehen. Die Gedanken der 68er-Bewegung und der Vietnamkrieggegner kamen in unzähligen Songs zum Ausdruck. Und Rap ist nichts weiter als die vielleicht politischste Musikrichtung aller Zeiten. Nur um ein paar Beispiele zu nennen, von denen es noch viele mehr gibt: Unter anderem, dass heute auch Agitatoren aus dem rechten Spektrum Musik benutzen, um aufrührerische und zumeist polemische Texte zu verbreiten – mal mehr mal weniger illegal. Oder dass feministische oder Queer-Künstler*innen ihre Equity-Message stolz und oft mit Wortwitz und von ironischen Videos begleitet in Songs verpacken. Oder der Klassiker: Metal-, Rock- und Punkbands, die für politisches Haudrauf stehen. Selbst in der biederen Popmusik finden systemkritische Lyrics immer wieder ihren Weg, wenn auch manchmal falsch eingeordnet. Eines der plakativsten Beispiele dafür: „Vamos A la Playa“. Tausende Miniplis haben zu diesem Song in den 80ern in lauen Rimini-Sommernächten ihre in weiße Levis verpackte Hintern geschwungen. Dabei erzählt der Song mitnichten von Urlaubsflirts und ausgelassenem Strand-Fun, sondern von der damals schon krassen Umweltverschmutzung der Mittelmeerküste und einer Atombombe. Vamos zu den politischen Lieblingssongs!


Meine Wahl: Depeche Mode – New Dress

Als Depeche Mode-Fankind bin ich mit vielen ihrer kritischen Synthie-Pop-Songs groß geworden. People are People, Black Celebration, Everything Counts – das sind alles Songs, die vermeintlich poppig daherkommen, aber Stellung beziehen. Ein Grund, warum ich für diesen Post unter vielen möglichen Lieblings-Polit-Songs einen von Depeche Mode wähle. „New Dress“ handelt von einem neuen „Princess Di“-Kleid, das Titelblätter der englischen Boulevardmedien füllt, statt die wirklich wichtigen Themen wie Gewalt, Armut und politische Entscheidungen zu behandeln. Und um eines gleich klarzustellen: Martin Gore meint mitnichten „Alternative Fakten“, wenn er von „… change the facts“ singt. Natürlich meint er die Umstände, die es zu ändern gilt.

Claudia Roth: Rio Reiser – Wann

Claudia Roth ist definitiv eine meiner Lieblingspolitiker*innen. Ich mag ihre unangepasste Art, fand sie immer schon wahnsinnig, stark und authentisch. Ihr Aktivismus zieht sich durch ihren gesamten Lebenslauf. Und dass sie Anfang der 80er Jahre Managerin der Band Ton Steine Scherben war, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Als mehrmalige, mittlerweile ehemalige, Bundesvorsitzende der Bündnis90/Die Grünen, MdB und jetzige Staatsministerin für Kultur und Medien, ist sie bis heute eine wichtige Stütze im Berliner Polit-Betrieb. Ich war unfassbar happy, dass Claudia Roth hier mitmacht und als Lieblings-Polit-Song „Wann“ von Rio Reiser ausgewählt hat.

Jan Plewka: Rio Reiser – Wann

Plewka ist bei weitem nicht nur als Sänger von Selig bekannt, einer der wohl wichtigsten deutschen Rockbands. Selig wurde 1993 gegründet, Jan komponierte allerdings schon mit neun (!) Jahren Liebeslieder aus Liebeskummer und sang sie auf dem Schulhof. Großes Talent für die große Bühne! Egal ob als Schauspieler und Solokünstler und Komponist, er überzeugt Kritiker*innen nonchalant. Besonders gefeiert wird er für seine Interpretationen von Rio Reiser, bald ist er wieder mit seiner gefeierten Hommage Jan Plewka singt Rio Reiser auf Tour.

Jan hat sich wie Claudia Roth für „Wann“ von Rio Reiser entschieden. Und weil man den Song nicht oft genug hören kann, hier in der von Jan gesungenen Version, ein Ausschnitt von seinem Auftritt im Hamburger Kampnagel.

Verena Reygers: Billie Holiday – Strange Fruit

Verena und ich pflegen eine jahrelange Liebe zu Musik&Text. Uns verbindet Musik nicht nur, weil wir uns in einer Promo-Agentur für Hip-Hop kennen- und lieben gelernt haben, wir haben später auch für ein Hamburger Rap-Magazin geschrieben – wobei Verena um Welten besser schreibt als ich. Deshalb verdient sie heute auch erfolgreich ihr Geld als freiberufliche Journalistin für Musik-, Feminismus- und Sex-Themen, während ich lediglich aus Spaß an der Freude blogge. Neben ihrem feinen Gespür für Texte hat sie auch eine riesige Audiothek von Songs im hübschen Kopf und schlug Billie Holiday vor. Denn: „Auch wenn PBoCs heutzutage nicht mehr wie „merkwürdige Früchte“ an Bäumen hängen, sie erleben heute immer noch Gewalt.“

Andrea Gerhard: Bosse – Das Paradies 

Andrea ist Schauspielerin, Podcasterin, Aktivistin und dann auch noch ur-sympathisch und einfach so engagiert! Im Podcast „ZWEIvorZWÖLF“ stellen sie und ihr Freund David spannenden Gäst*innen wie der 2. Bürgermeisterin Hamburgs Katharina Fegebank oder Schauspielerin Katja Riemanns Fragen zu Themen wie humanitärer Hilfe, Social Entrepreneurship oder dem Artensterben. Andrea hat sich Bosse ausgesucht: „Mit diesem Song verbindet mich ein Gefühl der Möglichkeiten. Wenn wir alle gemeinsam anpacken, dann verändert sich was. Und diese Veränderung ist dann zu schön, um wahr zu sein. Wir alle sind ein Teil der Welt. Wir tragen Verantwortung und sitzen am Steuer: In welcher Welt wollen wir leben?“

Oliver Frank: Marvin Gaye – What’s Going On

Oliver Frank kennt ihr schon aus meinem Interview zur Eröffnung seines Ladens „Laune der Natur“ und vielleicht auch als den ziemlich erfolgreichen Musikmanager von Bands wie Blumfeld und Jochen Distelmeyer, Tocotronic, Okta Logue oder Flamyngus, der er ist. Bioladen & Musik – klar, dass ich auch Oli um einen Song bat. Der musste überlegen: „Immerhin können die Corona-Schwurbler ja alles verdrehen. Sprich: Politik-Songs funktionieren im Zweifel auch für die.“ Entschieden hat er sich dann für einen der schönsten Songs, wie ich finde: „Ich würde aber jetzt mal sagen, dass ‚Whats going on‘ von Marvin Gaye über jeden Zweifel erhaben ist.“

Jannes Vahl: R.E.M. – It’s the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)

Ein Mann, den man ins Herz schließen muss, es geht gar kein Weg daran vorbei. Er ist vor allem einer, der Menschen liebt. Damit es schlechter gestellten Menschen besser geht, stellt er seine Bedürfnisse seit vielen Jahren weit hinten an. Seit er vor zehn Jahren die Clubkinder e.V. (mit-)gegründet hat, helfen er und über tausend Mithelfer*innen in der Hamburger Jugend- und Altenhilfe, im Tierschutz oder unterstützen geflüchtete Menschen und Obdachlose. Jannes organisierte zudem Demos gegen Nazis, gründete zwischenzeitlich einen Club auf dem Kiez und eine Agentur, in der man ausschließlich ethisch-korrekte Kunden betreute. Ein Idealist, der die Realität lebt. Jannes liebt Musik und fand die Anfrage DEN „Lieblings-Polit-Song“ zu nennen daher „fast gemein und unlösbar“, hat sich aber aus aktuellen Gründen für den R.E.M. Song “It’s the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)” entschieden.

René Gögge: Fleetwood Mac – Don’t stop / Rachel Platten – Fight Song

René ist seit 2002 Mitglied bei den GRÜNEN, zunächst in seinem Geburtsbundesland Mecklenburg-Vorpommern, ab 2008 dann in Hamburg. Seit 2015 ist er in der Bürgerschaft aktiv. Als Wahlkreisabgeordneter für Barmbek & Uhlenhorst ist er in meinem Wahlkreis aktiv und überdies war er Sprecher für Kultur der GRÜNEN Bürgerschaftsfraktion. Seitdem ist er zuständig für Kultur und öffentliche Unternehmen. René hat gleich zwei Songs vorgeschlagen, die ursprünglich nicht politisch motiviert waren, aber in den Wahlkampf-Kampagnen von Hillary Clinton genutzt wurden: „Don’t stop“ von Fleetwood Mac und „Fight Song“ von Rachel Platten.

Ronja van Dam: Sarah Lesch - Testament

Ronja und ich haben schon so viele Musikstile geteilt & geliebt und führen eine gemeinsame Spotify-Playlist, die unsere Kindheit & Jugend beleuchtet und schon über 43 Stunden Musik enthält. Einfach, weil wir uns seit dem 9. Lebensjahr kennen, unzertrennlich waren und später auch in Hamburg zusammenwohnten. Musik ist immer noch unser Band: So oft schicken wir uns gegenseitig wiederentdeckte Perlen oder besondere Remixe, graben Mixtapes aus oder feiern alte Flyer. Wir lieb(t)en Depeche Mode heiß und innig, standen am Ku’damm als Rave-Gören auf der 1994 Loveparade, wir gingen noch auf echte Hip-Hop Jams in Kulturzentren, hatten selber eine Rapgruppe mit 13. Nicht zu vergessen: mit 12 gründeten wir den „Chilli-Club“, unseren eigenen Tier- und Umweltschutz-Klub. In der Mitglieder-Verordnung krakelten wir ungelenk auf das ungebleichte Umweltpapier aus dem Collegeblock, „wir müssen auch verbotenes tun, um Tiere zu retten“. Über Kaugummi in Pelze kleben und Umweltschutz-Collagen zu basteln und in Dorf-Läden zu hängen ging es allerdings nicht hinaus. Obwohl Ronja großer Green Day und Beatsteaks Fan ist, hat sie sich für diesen leisen, aber umso kritischeren Song entschieden:

Björn Köcher: Kate Tempest

Björn aka weltbester Ehemann beendet auf seinem Outdoor-Blog St. Bergweh jeden Artikel immer mit einem thematisch passenden Musikvideo. Politisch fliegen bei uns schon mal die Fetzen, weil es ein paar Punkte gibt, bei denen wir nicht übereinkommen. Beispielsweise plädiere ich für die komplette Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Ich bin für mein Tun&Handeln verantwortlich. Björn wiederum sagt, Politik muss auch klare Rahmen und Richtlinien vorgeben, um Wirtschaft und Gesellschaft zu einem weniger umwelt- und klimaschädlichen Verhalten zu motivieren. Die Diskussion um das Narrativ der Verbots-Partei (well done, Lobbyverband, der du dieses Narrativ so erfolgreich platziert hast!) verfolgen wir mit Ekel und sind dann doch wieder einer Meinung und wissen: Am besten wäre wohl ein Mix aus beidem – Eigenverantwortung der Bürger*innen und klare Vorgaben der Politik. Er hat sich Kate Tempest Song „Europe is Lost“ ausgesucht, weil seiner Meinung nach kaum ein Musikvideo existiert, dass den Irrsinn der modernen Welt in so starken Lyrics und Bildern wiedergibt.

Luca Stolzenwald: Swiss & Die Andern – Schwarz Rot Braun

Mein kleiner Bruder hätte einen eigenen Blog mit seinen Vorschlägen füllen können, denn er hat mir sage und schreibe 25 (!) politische Songs geschickt, die ich bis jetzt nicht mal alle anhören konnte! Aber kein Wunder, entstammt er ja der gleichen politischen Familie, von der ich im vorherigen Wahlprogramme-Vergleich schon erzählt hatte. Ich hab mir aus seinen vielen Songs dann den hier herausgepickt, Hamburger Punk hat mir hier eh noch gefehlt:

Thomas Harsman: Boysetsfire – After The Eulogy

Thomas kenne ich aus der guten Zeit, als ich noch in der Musikindustrie arbeitete (vor ca. hundert Jahren also) und wo wir mit Bier in der Hand und Bands auf der Bühne auf dem Rock Im Park Gelände standen und einfach sehr gute Zeiten hatten. Er war damals schon Festivalkoordinator bei VISIONS und ist heute ebenfalls in Sachen Festivals beim Hamburger Konzertveranstalter Karsten Jahnke aktiv. Und trotz des REEPERBAHNFESTIVAL-Stress hat er sich die Zeit genommen, mir einen Song rauszusuchen! <3

Eines sagt er aber vorneweg: ich tue mich grundsätzlich schwer, bei Musik in der Kategorie „Lieblings-X“ (-künstler:in, -album, -song) zu denken. Dass die Wahl auf „After The Eulogy“ gefallen ist, ist sicher dem Umstand geschuldet, dass ich bei Erscheinen der Platte und des gleichnamigen Openers ein leicht beeinflussbarer Teenager war, der sich der wüsten Energie des Songs nur schwer entziehen konnte. Vielleicht war es Glück, dass Nathan Gray eine starke Abneigung gegen Ungerechtigkeit hat und sie nicht nur in diesem Song ziemlich plakativ zum Ausdruck bringt – eigentlich ist der gesamte Songtext eine einzige Aufforderung zum politischen Aktivismus. Nun könnte man daher auch hingehen und ihn für blau-braune Stammtischparolen missbrauchen, wenn da nicht die aufbrandenden „No Justice, No Peace!“ Rufe zu Beginn des Songs wären, die dann doch eine eindeutige Sprache sprechen. Eigentlich zwar unfassbar, dass der Song aus dem Jahr 2000 stammt und diese Forderung nach Gerechtigkeit aktueller denn je ist. So musste ich aber zumindest nicht lange nachdenken, was mein (aktueller) Lieblings-Polit-Song ist.“

Julia: KUMMER – Der letzte Song (alles wird gut) feat. Fred Rabe

Heute beginnt Putin in die Ukraine einzumarschieren und ich erweitere diese Liste mit dem letzten Song. Mich kotzt Krieg an, mich kotzt Machtanspruch an, mich kotzen Autokraten an, Diktatoren und territoriale Interessen, die auf Öl und Geld und mehr Macht und mehr Einfluss zu tun haben. Mich kotzt, mit Verlaub, der Mensch oft an. Aber alles wird gut. Oder, Kummer? <3

Julia: Danger Dan – Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

30 % AFD-Umfragewerte? Da bleibt uns nur die Militanz.

Julia: ENGST – Herr Meier von der AFD

Das Erstarken der AFD, in einem Song verpackt. Trauriger Mann, der Meier. Aber es werden immer mehr Meiers. Und Müllers.


Es gibt so unendlich viele Songs, die in eine Liste der besten Polit-Songs gehören. Wie auch diese hier:

Anti-Flag – This is the end

Ton Steine Scherben
– Macht kaputt, was euch kaputt macht

Rage Against The Machine - Killing In the Name

Public Enemy - Fight The Power

Jamiroquai - Too Young to Die

Advanced Chemistry – Fremd im eigenen Land

Samy Deluxe - Weck mich auf

Roger & Schu – Frieden

Die Ärzte – Schrei nach Liebe

Marteria – El Presidente

Frittenbude – Die Dunkelheit darf niemals siegen

Sepultura – Guardians Of Earth

Anthrax – Indians

John Lennon – Imagine

Der Traum ist aus - Ton Steine Scherben

Kill all the white man - Nofx

The Fletcher Memorial Home - Pink Floyd

Born this way - Lady Gaga

Born in the USA - Bruce Springsteen

Irie Révoltés - Antifaschist

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Meine Favoriten im Oktober – Mode mit Armedangels und hessnatur und Grusel mit “The Death of Jane Lawrence”

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Meine Favoriten im September – chillen mit der flow, Kismet Yogastyle und Ruth tut gut