100 Tage Krieg – Wie umgehen mit der Krisenmüdigkeit?

Eine Frau liegt müde im Bett, ihre Brille liegt neben ihr

Krisen machen müde. Credit: Ephraim Mayrena/Unsplash

Annalena Baerbock brachte es unlängst auf den Punkt: „Wir haben einen ‚moment of fatigue‘ erreicht.“ Ich fühle diese Krisen-Müdigkeit, dieses „Ich-ertrage-keine-einzige-Kriegs-Nachricht-mehr“, habe meinen Medienkonsum drastisch einschränken müssen. Bin ich zu Beginn des Angriffskrieges in einen rasenden Fight-Modus verfallen, in dem ich 24/7 Nachrichtenticker gelesen, wie wild gebloggt und Demos besucht habe, hat mich schnell eine bleischwere Lähmung erreicht, bis hin zur totalen Verzweiflung.

Jetzt sind wir schon über hundert Tage dabei, beim Krieg gegen die Ukraine. Wir sind „nur“ die Zuschauer und dennoch völlig überfordert von dem, was wir da sehen. Es gibt die unterschiedlichsten Arten, wie wir damit umgehen können und alle sind ok. Allerdings, Hilfe wird weiterhin nötig – und Protest erst recht.


Der Krieg ist weiterhin präsent – aber eben nicht mehr als Megathema. Inflation und Spritpreise dominieren Medien und Gedanken, das 9-Euro-Ticket samt der Punk-Angst-auf-Sylt-Hysterie beherrscht die Headlines.

Dabei geht es doch jetzt erst in die wichtige Phase. Der Interessenverlust spielt Putin in die Karten. Der Brandherd ist auch immer noch Brandherd, die Angst vor Ausweitung des Krieges ist gleich aktuell. Und in Hamburg? Da sind viele gestrandete Ukrainer*innen, die gezwungenermaßen ein neues Leben anfangen müssen. Gleichzeitig leiden lokale Hilfsorganisationen sowohl unter einem eklatanten Mangel an ehrenamtlichen Helfer*innen wie unter der Inflation. Zugleich wissen wir doch alle auch gar nicht, wie man Menschen eigentlich richtig integriert, oder?

We're in this together. But are we, darling?

Als ich noch über volle Energiereserven verfügte, habe ich mich öfter ehrenamtlich betätigt. Ob Sexarbeiterinnen mit Tee versorgt, Menschen ohne Obdach mit Schlafutensilien oder ältere, vereinsamte Menschen besucht, ich habe immer gerne mit angepackt. Heute schaffe ich das nicht mehr. Durch meinen Burnout kann ich nur noch vom Sofa aus agieren. Ob solche Blogposts, Hilfe suchende Menschen miteinander vernetzen oder Geld spenden, mehr geht bei mir derzeit nicht. Aber jeder einzelne Schritt zählt. Wir alle können was tun. Der eine mehr, die andere weniger und umgekehrt. Es kommt halt immer auf die eigenen Umstände an und niemand muss sich schämen, dass er/sie derzeit nicht so viel tun kann. Aber was tun, das müssen wir trotzdem alle, denn am Ende ist dieser Krieg auch unser Krieg und jede Hungerkatastrophe auf der Welt auch die unsere. Wir können Krisen nur im Kollektiv bewältigen. Das gilt für Kriege, Inflationen, Armut und die Klimakatastrophe. Denn ja, die gibt es auch noch.

Während die Bauern derzeit Erdbeerernten ausfallen und Früchte verrotten lassen, weil Erdbeeren durch Preisanstiege zum Luxus-Gut geworden und somit kaum zu verkaufen sind, müssen die Hamburger Tafeln derzeit Leute abweisen. 22 von 29 Tafeln haben einen Aufnahmestopp verhängt. Durch Corona und den Wegfall der Gastronomie als Spender haben die Tafeln bereits herbe Einbußen gehabt, jetzt verschärft die Inflation die Situation noch. Als ukrainische geflüchtete Menschen nun auch noch vor den Ausgabestellen standen, mussten die Tafeln handeln. Bedeutet: viele ukrainische Menschen bekommen derzeit keine Unterstützung. Den Tafeln fehlen zudem Mitarbeiter*innen in den Ausgabestellen. Genauso prekär sieht die Lage beim ASB Mitte aus, auch hier sind zwar die Kleiderkammern voll, aber es fehlen helfende Hände für die Ausgabe. Auf Facebook schreibt der ASB dazu:

So wie bei uns ist auch bei der Tafel ein extremer Andrang. Alle Organisationen brauchen unbedingt mehr Hilfe = mehr Menschen, die sich engagieren. Mehr Menschen, die ein offenes Herz für andere haben und diesen helfen.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Hanseatic Help:

Aber auch nach über 100 Tagen geht der Krieg weiter. Wir verstehen total, dass vielen die Zeit oder die Energie fehlt, sich persönlich einzusetzen - das merken wir auch in unserer Halle. Das Spendenaufkommen hat merklich nachgelassen. Sicher haben viele von euch schon einiges vorbeigebracht, das ihr entbehren könnt. Aber vielleicht hat der eine oder die andere über Pfingsten mal wieder klar Schiff in den eigenen Schränken gemacht und kann einiges von unserer aktuellen Bedarfsliste beitragen? Darüber würden wir uns unglaublich freuen!

Wie geht eigentlich gute Integration?

Viele meiner Bekannten haben bereits geflüchtete Menschen bei sich als Mitbewohner*innen gehabt, haben Wohnungen eingerichtet und mit Schulanmeldungen geholfen. Viele Menschen haben allerdings noch keinen Kontakt zu Schutzsuchenden gehabt. Wie geht Integration dann? Klingelt man einfach an Türen?

Nee, natürlich nicht. Wer es richtig wissen will, wendet sich an die Malteser. Da kann man sich zur Integrationshelfer*in ausbilden lassen: Integrationshelfer*innen unterstützen dabei, Geflüchteten das Einleben in die Gesellschaft zu erleichtern. Die Ehrenamtlichen, die sich in diesem Bereich engagieren, begleiten die Menschen individuell. Sie geben ihnen Halt, Wissen, Mut, Zuversicht und alles Notwendige für ein selbstständiges, selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft. Miteinander statt nebeneinander leben, gegenseitiges Verständnis statt Misstrauen, Zugehörigkeitsgefühl statt Ablehnung - das sind die Ergebnisse von gelungener Integration.

Stark, oder? Das würde ich gerne machen, wenn ich wieder fit bin. Aber, siehe oben, einfach jede Hilfe ist wichtig. Und wenn es „nur“ ein paar Spielzeuge sind, die man entbehren kann, vermittelt beispielsweise über die Ukraine Hilfe von nebenan.de. Ganz egal, wichtig ist nur, dass wir weitermachen, trotz der Krisenmüdigkeit.

Mit der Barbie Corvette gegen Putin

Ja, logo – auch ich würde gerne einfach nur ein instgrammable life führen. #butfirstcoffee, #yogaeverydamnday & #beachlife posten, statt mich mit der akuten Verschärfung der Hungerkrise im Taschad zu beschäftigen. Würde dringend lieber Reisen mit dem Van planen oder tiefenentspannt am Elbstrand sitzen. Aber der Krieg ist real und mit ihm die globalen Folgen, exakt wie bei der Klimakrise. Es nützt nichts, die Augen davor zu verschließen.

Es bleibt dabei, wir müssen einen Weg finden, aktiv zu sein, ohne uns selbst zu überlasten. Ich persönlich bin völlig in die Reminiszenz abgetaucht. Ich verbringe viel Zeit damit, Devotionalien aus den späten 80ern im Netz aufzustöbern oder suche nach bestimmten alten Kinder- und Jugendbüchern meiner Teenager-Zeit. Das ist mein Coping-Mechanismus, das gibt mir Wohlgefühl. Mit der Barbie-Corvette aus den 80ern gegen die Angst vor Putin. Mit der Roten Zora gegen die Aussage der Uno, dass wir vor einem „globalen Klima-Kollaps“ stehen. Abzutauchen in die Welt von 1988 bis Mitte der Neunziger tut mir immer gut, ich liebte diese Zeit und trotz Kaltem Krieg war es für mich eine gefühlt großartige, von nichts überschattete Zeit. Vintage Bravo Foto-Love-Storys sind mein Valium!

Und das ist okay. Solange ich wieder ins Hier&Jetzt zurückkomme und meinen Arsch hochkriege.

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