Farewell, Gruner + Jahr: Ein Abschied
Ich bin, das muss man gleich wissen, Ende der 70er geboren und somit kein Kind der digitalen Inhalte. Viel mehr umgab mich Print: Zeitungen und Zeitschriften, Heftchen von der Bank, Kinderbücher und kleine Pixies, ich habe mir ob des Überangebots an Geschichten in Druckereierzeugnissen zügig das Lesen beigebracht und wo ich nicht verstand, was in der Zeitung stand, habe ich mir zumindest Bilder angesehen.
Ronald Reagan, Fallout & Milla im Stern
Kurzum, die Flaggschiff-Publikationen wie die Geo und der Stern fanden schon früh, sicher auch früher als bei Altersgenoss*innen, ihren Weg in meine Kinderhände. Der Stern war das erste Magazin, das ich regelmäßig las und das muss Mitte der 80er Jahre gewesen sein, denn ich erinnere mich an Artikel über Ronald Reagan (Hollywood!) und den Fallout von Tschernobyl (Panik!). Ich las die damals im Heft noch veröffentlichten Fortsetzungsroman(e?), die allerdings nicht für Kinder geschrieben wurde (Sex!), aber egal, ich habe halt alles verschlungen. Auch die ersten Bilder des späteren Topmodels, und damals gerade mal 12 Lenze zählenden, Milla Jovovich (Fragwürdige Bilder, heute undenkbar!) habe ich fasziniert betrachtet. Kurzum, der Stern war mein erster Bezug zum Verlagshaus in Hamburg.
Meine Frauenrechtlerin-Großmutter Marlis ging mit mir gut gelaunt 1992 in Schtonk, den ironischen Film über den wohl größten Skandal, den G + J je einstecken musste, die gefälschten Hitler-Tagebücher – und amüsierte sich köstlich über den von Ochsenknecht dargestellten Fälscher Kujau und wie er Henri Nannen, Chefredakteur Peter Koch und sonst noch allerlei Kolleg*innen über den Tisch zog. Schließlich verabscheute sie Nannen („Nazi!“) und Koch („Sexist!“).
Über den Stern hatte sie sich sowieso immer herrlich auslassen können. Konnte sich tagelang über den Umgang der Redaktion mit Monika Weimar, geborene Böttcher („Kindsmöderin“) aufregen, versuchte schließlich auch, Kontakt zu Weimar aufzunehmen. Einzig die Aktion „Wir haben abgetrieben“ wurde von ihr unterstützt.
Gala, PM & die Young Miss – Youngster Era
Ich weiß gar nicht mehr genau, wie es mit dem Verlagshaus und mir weiter ging. Ob das nächste Magazin die Gala war, die meine Kollegin Näsh sich von ihrem knapp bemessenen Azubi-Gehalt wöchentlich gönnte, oder die Brigitte Young Miss, die den Gap zwischen der Bravo Girl (schuldig!) und der erwachsenen Allegra füllte – irgendeine G + J Publikation lag immer auf dem Schreibtisch, zu Hause im Bett oder wurde auf einer meiner vielen Zugreisen Ende der 90er durchblättert. Denn auch die oft belächelte PM habe ich, dazu stehe ich gern, auf eine der vielen Reisen zwischen Köln und Stuttgart; Berlin und Hamburg mitgeführt – das war schließlich noch die prähistorische Zeit ohne Internet-on-the-go. War geil.
PM mit den kleinen Geschichtshappen war dafür ideal, aber auch die genannte Brigitte Young Miss, die immer etwas alternativer, cooler und schlauer war, als eben die anderen Teenie-Magazine. Ja, kann man jetzt argumentieren, das ist doch aber alles Blödsinn, immer diese kapitalistische Scheiße mit Mode und Kaufanreiz für überflüssige Produkte. Stimmt. War hier aber toll verpackt und mit guten, schlauen Texten und viel guter Musik im Heft. Vor allem mit Texten von Redakteur Jan Gritz, bis heute einer der allerliebsten Redakteure in all den Jahren Medienarbeit.
Brigitte und ich werden erwachsen
Später dann fand ich auch den Weg zur erwachsenen Brigitte. Die Aktion „Brigitte ohne Models“ fand ich super, habe mich dafür auch erfolglos beworben, um just vor zwei Jahren dann doch noch den großen Auftritt, pünktlich zum Pandemiestart, mit dem großen Umstyling mit Boris Entrup himself im Heft (siehe Bild oben) zu haben! Nie hat mir jemand ruppiger die Haare gebürstet, aber nie sah ich nach nur ein paar Minuten Haarschnitt besser aus. Wer kann, der kann.
Und auch sonst. Die Brigitte Texte waren & sind auch heute noch sehr gut recherchiert und geschrieben, sie sind immer vielseitig, den Ansatz der Brigitte Woman und der Wir für die Generation ab Vierzig, die bislang vom Zielgruppen-Tellerrand fielen, fand und finde ich genial. Ich habe in den Heften nicht nur einmal Inspiration gefunden, abseits von Prêt-à-porter oder Interieur-Klassikern. Gesellschaftlich unbequeme Themen wie die der afrikanischen, vergewaltigten Minenarbeiter*innen, die für unsere Technik schuften, oder Karo e.V., der Verein, der sich für (minderjährige) Sexarbeiter*innen an der deutsch-tschechischen Grenze einsetzt.
Die Brigitte – und all ihre Schwestern – haben sich niemals, und das schwöre ich, wirklich niemals von mir als PR-Frau bestechen lassen. Nicht mit Produkten, nicht mit Events, nicht mit guten Worten und auch nicht mit meiner Erstgeborenen. Zu meinem Leidwesen! Was nicht passt, kam nicht ins Heft.
ROFL mit den 11Freunden
Wenn ich, nicht nur einmal, mit verlaufender Mascara in hysterischen Lachflashs stecken blieb, streckten Kolleg*innen den Kopf durch die Bürotür und nickten sich wissend zu: Ah, Julia liest die 11Freunde. Ein fulminantes Magazin, das die kleinsten Dorfkickermannschaften mitten im südamerikanischen Nirgendwo genauso gut porträtierte, wie es nachhaltig gute Interviews führte und eben den weltbesten (!) Spiele-Ticker schrieb. Die BUs im Heft haben wirklich oft zu Lachkrampf-Bauchweh bei mir geführt, ach, wenn ich nur ein Fingerbreit Talent wie die Köster-Truppe hätte, ich wäre gesegnet. P.S.: Danke für eure Quatar-Reportage.
Anzeigenflaute & Optimierungswahn – RTL-Bertelsmann schlägt zu
Wenn also dieser Traditionsverlag, diese Talentschmiede, die eben auch ein großes S-tückweit Teil der Hamburgischen Geschichte ist, von eben den Manager*innen kahlgeschlagen wird, die für die RTL-Gruppen-Inhalte zuständig sind, dann ist das eine Farce.
Man strebt an, die etablierten Streamingdienste wie Netflix oder Amazon angreifen zu wollen und im großen Game mitzuwirken.
Drei Beispiele aus dem Streaming-Programm:
Dubai Diaries – Living the Dream. Hier wird mittels abgehalfterter Reality-Sternchen das stumpfe Luxusleben in Dubai glorifiziert. Amnesty International hat da auch eine Meinung zu Dubai.
Bushido & Anna-Maria – Alles auf Familie. Die ohnehin schon unerträglichen Ferchichis sind ebenfalls im Dubai-Dunst untergekommen und lassen sich oft & gerne mit Prinz Marcus von Anhalt sehen & das auch in der von RTL ausgestrahlten Doku. Der wiederum ist bekannt als homophober, extrem gewalttätiger und jetzt auch antisemitischer Mensch. Jüngst ließ er bei einer Party die achtjährigen Töchter der Ferchichis und Aogos an einer Poledance Stange tanzen, postete das auf Instagram mit der Bemerkung „Aha, ihr trainiert schon fleißig.“
Laura und Michael Wendler - Michael Wendlers Baby-Glück. Dazu aus der Pressemeldung: RTLZWEI begleitet Lauras Schwangerschaft, wie auch alle Höhen und Tiefen, die die werdenden Eltern gemeinsam erleben. Vom Geburtsvorbereitungskurs bis zum Babybett-Kauf: Der Privatsender aus Grünwald gewährt im Rahmen einer sechsteiligen Doku-Soap intime Einblicke in das Leben von Michael und seiner Laura. Produziert wird das neue Format von Rainer Laux Productions und EndemolShine Germany. Eine Ausstrahlung inklusive der Geburt als Staffel-Highlight ist noch in diesem Jahr geplant.
Zur Erinnerung: Wendler hetzte in den letzten Jahren auf das übelste über Telegram. Verfassungsfeindlich, Antisemitisch, Gewalttätig, Rechtsextrem. Nachzulesen gerne hier. EDIT: Als die große Empörungswelle über RTL2 und RTL hineinbrach, hat sich ersterer von der Doku verabschiedet, zuvor hatte RTL darauf hingewiesen, man habe als Anteilseigner die Doku so oder so nicht gestreamt. Das alles aber erst nach der Empörung. Ein Schelm, wer dabei böses denkt.
Ich tue mich wirklich schwer damit, diese Art der Ausrichtung und Programmgestaltung in Einklang mit dem Traditionshaus G + J, das für hochwertigen Journalismus steht, zu bringen.
Wenn das Management die Mitarbeiter*innen zum Townhall-Meeting (Anglizismen all over) bittet, nur 20 Minuten vorher den Betriebsrat über die zu verkündenden Sparmaßnahmen informiert, dann ist das wahnsinnig schlechter Stil. Passt aber zur Programmausrichtung. So gesehen ja auch wieder sehr authentisch, das alles. Vielleicht mag das in Köln ansässige Unternehmen ja die tausend zu entlassenden Mitarbeitenden mit dem rheinischen Grundgesetz „trösten“. Denn, so sagt man sich in Köln, Et bliev nix wie et wor.
Fortschritt ist allerdings das eine, Zerschlagung eines profitablen Unternehmens was anderes.
Ja, die Anzeigenflaute der letzten Jahre hat allen Printtiteln das Leben erheblich erschwert. Während der ersten Corona-Monate haben Anzeigenkunden auch bei G + J hektisch ihre gebuchten Kampagnen storniert. Auch die Brigitte war einige Monate lang auf Anzeigen-Crash-Diät und musste ihre Abonnent*innen über das erschlankte Heft trösten. Und trotzdem ist die Mutter aller Frauenzeitungen (wieder) profitabel und mit ihr ihre Schwestern.
Die Brigitte Woman verzeichnet eine monatliche verkaufte (!) Auflage von 86.115 Heften, eine 1/1 Seite Anzeige kostet hier 28.800 €. Klingt für mich nicht nach sterbendem Magazin.
Und trotzdem werden Magazine eingestellt. Niemand braucht offenbar mehr gute Journalist*innen, zumindest nicht, wenn es um RTL geht.
Was jetzt noch bleibt
Die SZ schrieb von den „Perlen auf dem Wühltisch“, die da nun zum Verkauf stehen. Intern nennen es die RTL-Manager*innen, jung & edgy, wie sie halt sind, „Project Pearl“. Peinlich, Leute. Oder auch für euch: embarassing, people. 11Freunde, die unvergleichliche art, die Beef, die Business Punk, alle zu verkaufen.
Ich habe mein Leben lang Print abonniert. Wir hatten zuletzt die Walden im Abo, eines der bald zu Grabe getragenen Magazine, da habe ich ein großes Fragezeichen im Kopf: Alleine 2022 wurden 90.985 Wohnmobile und Wohnwagen NEU zugelassen. Und da soll keine Vermarktung für so ein Heft stattfinden können? I doubt it.
Der letzte macht das Licht aus – Farewell, Gruner + Jahr!
Meine Liebe zu Print ist ungebrochen. Ich werde immer eher Artikel lesen wollen, als kurzen Videocontent zu konsumieren. Klingt old-fashioned? Gerne.
Candycrush und Sims, Instagram und TikTok & damit einhergehend: eine komplett verkürzte Aufmerksamkeitsspanne des Homos digitalis. Bilde ich mir nicht etwa ein, sagen Studien, wie etwa „The online brain“: Proband*innen, die etwa 15 Minuten auf Online-Shopping Seiten surften, hätten sich laut einer Untersuchung anschließend schlechter auf Aufgaben konzentrieren können als eine Vergleichsgruppe, die eine Zeitschrift gelesen haben.
Ich werde sie vermissen, die G + J Hallen am Baumwall, ich mochte die Atmosphäre, mochte jede/n einzelne/ n Redakteur*in, mit denen ich dort gearbeitet habe. Einige bleiben, viele gehen. Heidi Kabel sagt: In Hamburg sagt man Tschüss.