„Die Welt ist nicht mehr, wie sie war“ – Im Gespräch mit Natalie, Ukraine-Aktivistin
Ich habe Natalie am Samstag vor einer Woche kennengelernt, als sie mit Freunden zusammen eine Demonstration vor der Elbphilharmonie abhielt. Natalie scheint wie eine kleine und zarte Frau. Tatsächlich hat sie Superkräfte: Wenn diese schmale Person einem ihre Wut durch ein Megaphon entgegenschleudert, ihr Entsetzen, was da in ihrer Heimat passiert, ihre Hilflosigkeit und ihr Drängen nach Beistand von Europa, dann trifft das einen. Man kann nicht anders, als ihr zuzuhören. Die 27-Jährige Aktivistin hat ihr Master-Studium der Internationalen-Wirtschaftsbeziehungen an der Iwan-Franko-Universität in Lemberg gemacht. In einem Erasmus-Austausch in Jena hat sie BWL studiert, verschiedenste Austauschprogramme und Volontariate absolviert und pendelt seit 2016 zwischen der Ukraine und Deutschland hin und her, seit einem Jahr lebt sie nun in Hamburg.
Im Interview erlebe ich sie als eher leise, aber sehr souveräne und bestimmte Frau. Zwischen einem schnellen Hilfeeinsatz für eine ukrainische Mutter mit Tochter, die gerade in Hamburg angekommen sind und Hilfe benötigen, findet sie noch Zeit, mir ein paar schnelle Fragen zu beantworten.
junieundich: Wir haben uns vor einer Woche kennengelernt, als du mit deiner Freundin eine große Kundgebung vor der Elphi abgehalten hast. Damals war der Krieg noch nicht in den Köpfen der Menschen hier so richtig angekommen. Seither ist viel passiert, wie hast du diese Woche erlebt?
Natalie: Seit ich wieder hier bin, ist eigentlich nichts mehr schön. Ich kann mich nicht konzentrieren, nicht auf der Arbeit und auch nicht auf andere Sachen. Ich stehe in ständigen Kontakt mit meinen Freunden und Familie und ich bekomme täglich viele Anrufe, entweder von Hilfesuchenden oder von Helfer*innen. Die suchen bestimmte Dinge, Medikamente, Essen oder Anlaufstellen. Und ich versuche, allen zu helfen, wie ich nur kann. Diese Woche geht ein LKW voller Sachspenden aus Saarbrücken an die ukrainische Grenze, das habe ich organisiert. Ich versuche jeden Tag mit Firmen und Menschen zu sprechen, die jetzt helfen können und so sehen gerade meine Tage aus. Natürlich versuche ich auch, zu arbeiten. Aber alle haben Verständnis, dass meine Gedanken in der Ukraine sind. Die Welt ist nicht mehr, wie sie war.
Wie sieht der Kontakt zu deinen Freunden und Familien aus, wie geht es ihnen vor Ort?
Wir telefonieren jeden Tag und schreiben. Stündlich oder so oft es geht. Ich telefoniere mit dem Teil der Familie, der noch da ist. Ich versuche Frauen mit Kindern zu überreden, zu fliehen und nach Deutschland zu kommen, um nicht dort in der Gefahr auszuharren, doch viele von ihnen wollen dort bleiben und die Männer unterstützen und sie fühlen diese große Verantwortung, dazubleiben. Ich checke alle fünf Minuten die Nachrichten, so wie wahrscheinlich alle auf der Welt gerade, um zu wissen, was da abgeht und mein Herz tut weh, wenn neue Städte und Ziele bombardiert werden.
Meine Familie wohnt in der Nähe von Polen, in Lemberg, das ist nicht so weit weg von der polnischen und damit europäischen Grenze. Das ist – noch – ein bisschen sicherer als der Rest der Ukraine. Meine Freunde aus Kiew sind in die Westukraine geflohen, aber da wir zusehen können, wie immer mehr Städte bombardiert werden, ist die Frage, welche Stadt wird als Nächstes dran sein.
Momentan leben sie so, dass täglich dreimal die Sirenen losgehen und alle in den Keller müssen. Jeden Tag, dreimal. Sie können nicht richtig schlafen, oder essen, sie können nicht arbeiten. Sie sind immerzu gestresst und unter Druck. Das ist kein Leben momentan!
Wie schaffst du es, gerade auch mal innezuhalten/abzuschalten (wenn du es überhaupt schaffst)?
Das ist sehr schwierig für mich. Wenn ich auf der Arbeit bin, kann ich mich ein bisschen ablenken damit und versuchen, mich darauf zu konzentrieren. Nur wenn ich mit meinen Freund*innen hier zusammen bin, wenn wir über die Situation sprechen können und gemeinsam zusammen sind, dann hilft das ein bisschen. Es hilft, wenn du unter Menschen bist und nicht alleine mit diesen Nachrichten.
Wie können Hamburger*innen jetzt am besten den Schutzsuchenden helfen?
Es gibt eine große Not unter den Geflüchteten. In dem Erstaufnahmezentrum in Rahlstedt* gibt es zu wenige Mitarbeiter*innen und Ausstattung, um die Geflüchteten schnell und organisiert aufzunehmen. Dort warten viele Menschen, die keine Papiere haben, keine Versicherungen oder Geld bei sich haben. Hier braucht man mehr Helfer*innen und Orte, um die Menschen direkt zu unterstützen und gut zu versorgen! Wir brauchen also konkrete Hilfe von der Stadt Hamburg, aber auch von freiwilligen Helfer*innen.
Wie schätzt Du den weiteren Verlauf des Krieges ein?
Das kann keiner sagen. Die Ukraine ist ein Schutzschild für Europa, denn unsere Soldaten kämpfen nicht nur für eine freie Ukraine, sondern für ganz Europa. Wir haben derzeit einen Krieg ohne Regeln. Putin hat die Regeln schon lange gebrochen. Und so lange die Ukraine die ganze Welt rettet aber die Welt den alten Regeln folgt, die von Putin gebrochen wurden, kann es keinen Sieg geben. Wir haben nicht genug Soldaten, obwohl die Soldaten und die Bevölkerung sich so mutig zeigen und sind, doch wir brauchen mehr militärische Hilfen. Und dann bin ich der Überzeugung, können wir diesen Krieg gewinnen. Ich habe sehr große Hoffnung, dass die Ukraine stark bleibt und wir gewinnen, auch für die Welt. Das ist mein vielleicht utopischer Wunsch, aber tief in meinem Herzen glaube ich daran, dass wir gewinnen.
Aber wir brauchen Unterstützung, mit weiteren Sanktionen, weiterer militärischer Hilfe. Und wir brauchen die Unterstützung der russischen Bevölkerung. Sie müssen wissen, dass das ein Krieg ist und keine „Operation“ oder ein „Manöver“. Wenn nur die Hälfte der russischen Bevölkerung weiß, was hier passiert und sie aufstehen gegen diesen Krieg, dann stoppt das auch den Krieg. Und das ist dann auch die Verantwortung, dass der Krieg von verschiedenen Seiten innerhalb Russlands gestoppt wird.
Jeder versteht, dass die NATO jetzt nicht eingreifen kann, denn dann breitet sich der Krieg aus. Aber wenn die Ukraine aufgibt, macht das auch den Weg frei für Putin, nach Europa zu greifen. Deshalb brauchen wir jetzt weltweite Aktionen, mit Sanktionen, Demonstrationen und allen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln sowie dem Dialog.
*Tatsächlich meldet die Verwaltung der Stadt Hamburg, dass das Erstaufnahmezentrum in Rahlstedt sehr voll ist. Schutzsuchende, die in privaten Unterkünften unterkommen, müssen nicht in das Registrierungszentrum kommen, sondern sich ab dem 09. März im Amt für Migration, Hammer Straße 32-34 melden. (Stand 09.03.2022) Mehr Infos hier auf hamburg.de. Die Stadt Hamburg sprach Anfang der Woche zum Thema Erstaufnahme und Lage zu dem Thema auf einer Pressekonferenz.
HELFEN:
Wer Hilfsangebote hat oder nach freiwilligen Hilfstätigkeiten sucht, findet hier Informationen. Hilfen, die direkt an Natalie gehen sollen, können an meine Mailadresse geschickt werden.