„Kiew – 400 km. Das ist so nah!“, Florian holt Verwandte mit dem Auto aus dem Krisengebiet
Als Florian vor einigen Tagen mit dem Auto an die Polnisch-ukrainische Grenze gefahren ist, um Verwandte seiner Frau abzuholen, war der Krieg erst ein paar Tage alt. Während in Hamburg Spaziergänger*innen Espresso in der Sonne tranken, ist er von jetzt auf gleich aus der Hamburger-Wohlfühl-Bubble an die Grenze eines Kriegsgebietes katapultiert worden. Konfrontiert mit heftigen Erlebnissen seiner Mitfahrer*innen und den permanenten Kriegs-News im Radio und Internet, trat er den Rückweg nach Hamburg an. Hier schildert er seine Erlebnisse.
„Wir sind mit dem Auto losgefahren, um die Verwandten meiner Frau an der Grenze abzuholen. Als wir ankamen, an der polnisch-ukrainische Grenze, da stand da ein Autobahnschild ‚Kiew 400 km‘. Das ist plötzlich so nah gewesen! Auf dem Rückweg habe ich versucht, die Ruhe zu bewahren aber während die Verwandten meiner Frau mit ihren zurückgelassenen Familien und Freunden schrieben und mir Nachrichten zuwarfen und ich versuchte, den deutschen Nachrichten-Ticker zu aktualisieren, während die Nachricht kam, dass die russischen Truppen die Anweisung bekommen haben, auch die Atomwaffen in Alarmbereitschaft zu setzen, das war eine Extremsituation. Auch, weil dann Infos fielen wie, dass die russische Armee Hyperschallwaffen haben, die so schnell sind, die kann keiner abwehren kann. Da hast Du dann einfach nur Panik. Und das ist so symbolisch für diesen Informationskrieg und die Rhetorik. Die Situation war einfach so skurril mit diesen Männern an Bord und deren Verflechtungen von Herkunft und Ländern wie Russland, Kasachstan, der Ukraine. Es gibt da einen Sohn, der ist gerade mal 17 und auf einer Militärschule und geht jetzt kämpfen. Mir haben viele Leute gesagt, ich solle nicht zur Arbeit gehen aber die Arbeit lenkt mich gerade ab. Zu Hause zu sitzen und versuchen, den Nachrichten zu entkommen würde mich nur sehr stressen.“
Ich frage, ob er die Berichterstattung, die Solidarität und das Engagement in Hamburg ausreichend findet und ob er konkrete Forderungen an die Politik hätte.
„Ich bin sehr überwältigt von der Situation und könnte gar keine politischen Forderungen stellen, da die Lage so komplex und unübersichtlich ist. Allerdings, und das ist ein ewiges Problem, man lebt in seiner Bubble und bekommt auch nur aus der Bubble so richtig etwas mit. Es ist schon erstaunlich, dass relativ wenig berichtet wird für das Ausmaß, das die Situation eingenommen hat. Natürlich, Nachrichten sollen erst verifiziert werden, bevor sie veröffentlicht werden, aber bspw., auf MOPO.de, das ist relativ wenig.
Die Aktualität und die Umfänglichkeit der Nachrichten sind klein in dem Kontext, was sonst passiert. Was ich am krassesten fand, was in Bezug auf „Es passiert gar nichts seitens der Regierung“ (Anmerkung: Vor Beschluss der harten Sanktionen wie Waffenlieferung und SWIFT) war, war, als das Video von ANONYMOUS kam. Eine internationale Hackergruppe, die Russland den Cyberkrieg erklärt. Da hat man gedacht, so, DASS könnte jetzt mal einen Impact haben und nicht der Ausschluss vom ESC.”
Das in Hamburg gerade das Engagement fehlt, das kann ich mir nur so erklären, dass die Leute Corona-Krise-Müde sind. Wir waren vorher in dieser utopischen Wohlstandsblase und die zwei Jahre Corona haben da an einem gezehrt und dazu noch die ganzen anderen Krisen wie die Klimakrise, die Wahlen, Donald Trump. Und selbst die, ich sag mal, Corona Spaziergänger, da war es schon schwer, Leute zu mobilisieren dagegenzuhalten. Die Leute sind kaputt und desillusioniert aus den letzten Jahren und vielleicht auch gehemmt und enttäuscht von der Politik. Da sind die jetzt einfach nur froh, wieder in ihre Bar gehen zu können oder in die Sonne.“
Ich frage Florian, ob wir vielleicht auch einen Generationskonflikt haben, dass die „vergnügliche“ Generation der 25- bis 35-Jährigen einfach auch gar kein echtes Interesse an Politik oder Engagement haben.
Ja, wo Du das sagst und ich so überlege, kann das gut sein. Die haben vielleicht auch gar nicht mehr so die Konfrontation gehabt wie wir. Mein Vater stand noch am Bundesgrenzschutz (und vielleicht dort sogar meinem Schwiegervater gegenüber!) und vielleicht fehlen den Jüngeren die Bezüge. Meine Oma ist 93 und die erzählt noch von den Erlebnissen des 2. Weltkriegs. Und das bekommen auch meine Jungs mit und das finde ich gut. Aber bei den Jüngeren fehlt da vielleicht die Erinnerung. Da gab es auch gerade die Debatte von Böhmermann in ZDFneo über das Projekt „365 Tage Sophie Scholl auf Instagram“, dass diese Art nicht der richtige Weg ist, dass dieser Weg viel zu weichgespült sei.
Florian fragt seine Söhne, wie der Krieg auf sie wirkt, ob sie Angst haben.
„Nee, sagen beide unisono. Angst nicht, eher interessant. Sie reden auch in der Schule mit den Kindern darüber und sagen sich „Was nützt mir jetzt Angst, kann ich eh nicht ändern“. Bei uns wohnen jetzt die Verwandten, vorübergehend, und so sind meine Kinder hautnah mit den Folgen des Krieges konfrontiert. Ich selber habe auch keine Angst, ich schaue mir die Beschlüsse an und frage mich, wo ist jetzt das richtige Maß. Zuerst kam kaum Reaktion seitens der EU oder einzelnen Ländern und jetzt geht es Schlag auf Schlag. Wichtig wäre doch, den Dialog mit Russland zu führen. Es gibt einfach gerade Strafmaßnahmen, die nicht direkt in den Krieg eingreifen, oder auch Waffenlieferungen – da muss echt jede/r selber für sich entscheiden ob er/sie das gut findet.“
HELFEN: Florian unterstützt Taxi for Solidarity