Rezension: Geräuschüberempfindlichkeit – Wenn Hören zum Problem wird

Eine Frau schüttelt ihren Kopf, so dass ihre Haare vor ihr Gesicht fliegen

Sam Mcnamara I Unsplash


Mit dem Buch über Hyperakusis, Misophonie und Phonophobie hat PD Dr. med. Dr. h.c. Andreas Schapowal, das Informationswerk vorgelegt, das ich 2017 so dringend gebraucht hätte. Denn damals begann meine Phonophobie, unter der ich bis heute leide. Damals gab es zu meinem Problem nichts im Internet zu finden. Kein/e Ärzt*in wusste mir zu helfen, mein Problem wurde abgetan, nicht ernst genommen.

Auch eine Verhaltenstherapie konnte nicht helfen, denn meine Phobie entsprang einer Traumafolgestörung, ebenfalls etwas, was von ärztlicher Seite zunächst abgetan wurde. Hätte ich dieses Buch gehabt, ich hätte mir Hilfe zur Selbsthilfe geben können.

Andreas Schapowal – Geräuschüberempfindlichkeit I Credit: humboldt

Der Feind sitzt nicht im Gehör

Schapowal nimmt Betroffene ernst. Er nimmt uns in leicht verständlicher Sprache zunächst mit in die Besonderheit unserer Hörorgane. Zeigt das wundersame Zusammenspiel von Hörnerven, Hörbahn und Hörrinde.

So können Betroffene das Ohr erstmal als das wahrnehmen, was es ist. Ein Organ, das uns hilft, zu leben. Denn zwischenzeitlich hatte ich Ohren und mein Hörvermögen aus purer Verzweiflung verflucht, sie geradezu gehasst, weil sie so viel Leid verursacht haben – dabei haben sie nur getan, wozu sie gemacht sind. Schall übertragen.

Schapowal erklärt genau das. Die Übertragung von Schall und wie dieser im Gehirn verarbeitet wird. Das nimmt, zunächst einmal, Machthoheit. Nicht das Ohr ist der Feind, wenn das Hören zum Problem wird. Oft ist es eine seelische Verletzung, die sich durch eine Phonophobie oder Misophonie materialisiert. Damit wir hinschauen.

Auf anschaulichen Infografiken wird das Ohr und Gehörgang anatomisch erklärt. Auch der Schalldruckpegel wird dargelegt, von Alltagssituationen wie Staubsauger zu Kriegswaffen. Was stresst ein normales Ohr? Ebenfalls kurz umrissen sind die Hormone und Botenstoffe, denn bei Geräuschüberempfindlichkeit mit psychischer Begleiterkrankung ist eine medikamentöse Behandlung, beispielsweise den Serotoninspiegel beeinflusst ggf. angeraten.

Ein Streetart Bild, auf einer schwarzen Wand ist mit roter Farbe das Wort "Noise" gezeichnet, im O steht "Quiet lives inside"

Jon Tyson I Unsplash

Arten der Geräuschüberempfindlichkeit

Wie gesagt, als ich mit meiner Erkrankung konfrontiert wurde, habe ich dazu nichts im Netz gefunden und habe auch keine Informationen von Expert*innen wie einem auf Angststörungen spezialisiertem Psychiater bekommen. Hier werden nun alle Arten der Störungen aufgelistet und erklärt.

Rund 800.000 Menschen alleine in Deutschland leiden laut Buch an einer behandlungsbedürftigen Geräuschüberempfindlichkeit – du bist also bei weitem nicht alleine!

Beleuchtet werden Fälle von:

Hyperakusis – die generelle Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen

Misophonie – der Hass auf Geräusche

Phonophobie – die Angst vor bestimmten Geräuschen

Tinnitus – Geräusche im Ohr

Hörsturz – der akute Hörverlust

Diplakusis – doppeltes Hören

Akustische Halluzination – Sinnestäuschung im Bereich des Hörens

Einige der Störungen werden mit einem Praxisbeispiel verdeutlicht, in de Schapowal auf Patient*in, Anamnese und Therapieverlauf bis zur Heilung eingeht.

Die ärztliche Abklärung – Herausfinden, was dahintersteckt

In diesem Kapitel geht der Autor eingehend auf die gründlichen Arten der Anamnesen ein. Der erste Gang ist der zum/zur HNO-Spezialist*in, wenn nicht sowieso bereits klar ist, dass die Störung einen rein physischen Ursprung hat. Bei der HNO-Anamnese wird abgeklärt, in welchem Umfang und wie lange die Beschwerden andauern. Verschiedene Test werden in diesem Kapitel erklärt und auf die jeweilige Sinnhaftigkeit geprüft.

Auch auf die neurologische Abklärung wird hingewiesen, um Hirnerkrankungen ausschließen zu können. Und schließlich geht es zur psychiatrischen Abklärung, wo auch mein Fall einzuordnen sind. Denn meine Phonophobie ist eine Traumafolgestörung und entspringt meiner Kindheit.

In unterschiedlichen Studien fanden die Wissenschaftler bei rund der Hälfte der Patienten mit Geräuschempfindlichkeit und Tinnitus auch psychische Begleiterkrankungen bzw. bei 30 Prozent eine Depression. Es besteht auch ein höheres Risiko für allgemeine Angststörungen, spezifische Angststörungen wie die Phonophobie, für Panikattacken oder soziale Phobien.

(Quelle:Andreas Schapowal –Geräuschüberempfindlichkeit)

Was mir sehr an dem Buch zusagt, ist die Ernsthaftigkeit, mit der das Leiden von Betroffenen begutachtet wird. Hier werden Leiden ernst genommen, egal ob sie eine körperliche oder eine mentale Ursache haben. Das tut mir, als Betroffene, sehr gut.

Die Phonophobie ist der Definition nach eine spezifische Angststörung und sollte daher immer ärztlich abgeklärt werden, gleiches gilt für die Misophonie. Der Autor geht auf die Störung ein und bietet mögliche Fragen, um die Störung noch besser einordnen zu können. Wie „Ist die Situation auch für Außenstehende angemessen begründet“ oder „Welche Gedanken sind vorhanden und wie äußert sich das, bspw. Freeze-Fight-Flight?“

Gelbe Blätter eines Ginkobaums vor blauem Himmel

Agnes Barraud I Unsplash

Wie klassisch behandelt wird – und welche Alternativen es gibt

Besonders gut finde ich die Unterteilung und Aufklärung über die konservativen Behandlungen, also die rein medizinische, und dem gegenüber stehend die Stärkung der Selbstheilung.

In der konservativen Medizin kann bspw. mit Medikamenten gegen die Störung gesteuert werden, auch hier werden von Schapowal einmal Antidepressiva erklärt, aber er gibt eben auch der Phytotherapie viel Raum. Heilpflanzen von Ginkgo biloba bei Tinnitus eingesetzt zu Rosenwurz gegen innere Unruhe, oder ein Gemisch aus Lavendel und Passionsblume finden sich hier. Das ist wichtig, da zu häufig gleich auf Psychopharmaka gesetzt wird und viele Menschen auch gut auf Naturheilkunde ansprechen. Jedoch, wenn das nicht hilft, können klassische Medikamente Linderung verschaffen. Das ist individuell und gehört in die Hände eines Arztes/einer Ärztin deines Vertrauens.

Der kurze, sehr interessante Exkurs über magnetische und elektrische Stimulation, was besonders bei schweren depressiven Erkrankungen und Tinnitus angewendet wird, rundet den Bereich ab.

Zu guter Letzt wird die stationäre Therapie beleuchtet, wenn Betroffene mit der ambulanten Therapie nicht zur Ruhe kommen können. Auch das ist sehr hilfreich zu lesen, denn in Deutschland wird die stationäre Therapie von Geräuschüberempfindlichkeit und Tinnitus in etwa 30 psychosomatischen Kliniken bundesweit angeboten. Das wusste ich bislang auch nicht – und wurde nicht darüber aufgeklärt.

Eine Person sitzt im Schneidersitz und hält eine Klangschale in der Hand, vor ihr stehen weitere Klangschalen

Concious Design I Unsplash

Eine Übersicht hilfreicher Therapien für Menschen mit Hörempfindlichkeit

Neben der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie, die sich mit der Ursache des Problems und daraus resultierenden Verhaltensmustern auseinandersetzt, gibt es noch weitere Therapieformen, die der Autor anreißt. Von der Musik- und Hörtherapie, in der das Hörvermögen wieder positiv belegt wird, mit Klangschalen oder mit dem eigenen Musizieren bis zur Hypnotherapie, in der Patient*innen in Trance versetzt werden. Ich hatte keinen Erfolg mit der Hypnose, kenne aber Menschen, die damit gute Erfolge erzielt haben.

Wie helfe ich mir selber bei Geräuschempfindlichkeit – Der praktische Teil für den Alltag

Die Hilfe zur Selbsthilfe ist die Basis eines jeden therapeutischen Verfahrens. Andreas Schapowal zeigt hier vor allem viele Möglichkeiten der Entspannungsverfahren für den Alltag auf. Denn ein über-erregtes Nervensystem fokussiert sich gerne vor allem auf die Katastrophisierung und weniger auf die achtsame Beruhigung. Ich weiß das nur allzu gut, obwohl ich diese Dinge alle weiß, fällt es mir nach wie vor schwer, sie in meinen Alltag zu integrieren. Daher ist das Kapitel als Denkanstoß wieder für mich wichtig. Mach deine Hausaufgaben. Andreas Schapowal stellt die Klassiker vor: Ruheoasen schaffen, viel Bewegung wie Walking zu tanzen, zum Waldbaden. Aber auch die Klassiker der Reha, wie Malen und gestalten, werden vorgestellt. Wer gestaltet, beschäftigt sich nicht nur achtsam, er findet hierbei auch kreative Lösungen. Patient*innen werden ermuntert, das jeweilige belastende Problem zu malen. Das gibt auch wieder ein wenig das Gefühl von ins Handeln kommen – und das ist immer ein gutesr Impuls. Auch die Entspannungstechniken „Autogenes Training“, „Progressive Muskelentspannung“ und „Wechselatmung“ stellt er ausführlich vor. Das sind alles Übungen, die das Nervensystem zur Ruhe kommen lassen können. Hierzu meine Anmerkung als Betroffene: Im Zustand der absoluten Panik waren diese Techniken für mich genau das falsche, mir hilft dann eher eine Schüttel-Meditation, ein kurzes HIIT-Workout oder einfach alles, was mein Adrenalin schnell abbaut und meinen „Fight-Modus“ entspricht. Das kann und sollte jede/r Betroffene individuell für sich probieren.

Zusammen ist man weniger alleine – Die Selbsthilfegruppe

Selbsthilfe wird in der europäischen Tinnitusleitlinie als wirksame Therapie benannt. Dies gilt auch für eine Geräuscheüberempfindlichkeit. (Schapowal)

Schapowal weist auf die Wichtigkeit einer Selbsthilfegruppe hin. Das Erlebnis der Zusammengehörigkeit und das sich austauschen können, kann nachhaltig helfen. Ich kann das unterstreichen, auch ich habe bereits in Gruppentherapien die Erfahrung gemacht, dieses AHA-Erleben, dass man das eigene Leiden gar nicht alleine trägt, sondern es mit vielen teilt.

Mein Fazit zu Geräuschüberempfindlichkeit von Andreas Schapowal

Es ist bereits im Text zu lesen, ich halte das Buch gleichwohl für Betroffene, wie auch für Ärzt*innen, Klinikpersonal, Therapeut*innen und Psychosomatische Reha-Einrichtungen als absolut empfehlenswert. Betroffene finden hier ihre Störung als einen natürlichen, nachvollziehbaren Prozess dargelegt. Das hilft, sich ernst genommen zu fühlen. Medizinisches Personal kann hier über den Tellerrand blicken: Ich hätte das dringend gebraucht, als ich die Phonophobie entwickelte. Das Buch alleine kann die Störung nicht heilen, aber Auswege aufzeigen. Und genau das ist das Therapeutische daran: ein Ausweg aus der Hilflosigkeit.


Das Cover von Geräuschüberempfindlichkeit von Andreas Schapowal, darauf hält eine illsutrierte Frau ihre Hände an den Kopf und lächelt

Über das Buch:

Geräuschüberempfindlichkeit

PD Dr. med. Dr. h.c. Andreas Schapowal

144 Seiten, ca. 20 Abbildungen

15,5 x 21,0 cm, Softcover

ISBN 978-3-8426-3154-0

€ 22,00 [D] / € 22,70 [A] / CHF 33,50

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